Bürgerrundfunk und Erzählwerkstätten
Zum akustischen Gedächtnis der Region beizutragen, ist eines der erklärten Ziele vom Bürgerrundfunksender Radio Tonkuhle Hildesheim. Vom Sendebeginn an – im August 2004 – beschäftigte sich das Radio, und vor allem die Sendungsmacher auf den zugangsoffenen Sendeplätzen (ZoffS) mit „Geschichten von früher“, „von vor dem Kriege“.
So geriet Radio Tonkuhle auch an die „Seniorenakademie Alfeld“, die im Mehrgenerationentreff der Kleinstadt mehrere Gesprächskreise unterhält. Seit dem Herbst 2010 trifft sich dort wöchentlich der Gesprächskreis „Mit zehn ein Mann sein!“ – zu Kindheit und Jugend in der NS-Zeit in Alfeld. Über 50 kürzere und längere Geschichten wurden hier fürs Radio mitgeschnitten und später in der Reihe „Erinnerste Dich?“ ausgestrahlt. Einige Beiträge sind im Portal „Vernetztes Erinnern“ – Hildesheim in der NS-Zeit der VHS Hildesheim-Alfeld eingestellt. Die Teilnehmer*innen, Geburtsjahrgänge ab 1926 und später, kannten sich zum Teil seit Kindertagen, was für den Wahrheitsgehalt des Erzählten wertvoll war: Es gab lebhafte Korrekturdebatten darum, „wie es tatsächlich war“.
Willi Sievers und die Schlangenbande
Eine der herausstechendsten Geschichten wurde vom mittlerweile 93 jährigen Wilhelm Sievers. Der damals 85-jährige Zeitzeuge berichtete von einer Affäre aus dem Januar 1944, bei der 13 HJ-Angehörige zwischen 16 und 21 Jahren von der Geheimen Staatspolizei verhaftet wurden. Allesamt seien sie Kinder von ehemals sozialdemokratischen oder kommunistischen Familien gewesen. Neben Einzelvergehen wurde ihnen vom Kriminalobersekretär Kurt Wolf die Bildung einer neuen „bündischen Vereinigung“, dem „Schlangenklub“ (laut überlieferter Anklageschrift) oder auch der „Schlangenbande“ vorgeworfen.
„In Alfeld bei Hildesheim bildete sich ein Schlangenklub, deren Mitglieder Angehörige der HJ belästigten und Diebstähle und andere Straftaten verübten.“
Sascha Lange: „Meuten, Swings & Edelweißpiraten – Jugendkultur und Opposition im NS“, Bonn 2018
Auch in anderen Städten wie Hannover und Offenbach gilt die Schlangenbande als nachgewiesene Widerstandsgruppe, die neben berühmteren Gruppen wie der „Weißen Rose“ (München) und den „Edelweißpiraten“ (Köln) jedoch in der Versenkung der Geschichte verschwand. Nur wenige Ausstellungen setzen sich mit der Schlangenbande außeinander, die besonders junge Frauen zum Aufstand gegen das NS-Regime animierte.
„Ein viel zu kurzes Leben hat die Offenbacherin Gretel Maraldo. […] Drei Tage nachdem sie am 24. März 1945 von der Gestapo auf der Flucht erschossen wird, befreien US-amerikanische Soldaten Bensheim. Schon mit 21 Jahren war sie Teil der Offenbacher Schlangenbande, die „keine Lust haben auf den verordneten NS-Drill, kurze Haare und Marschmusik“. Als Gretel im Bensheimer Gestapogefängnis ihre langen blonden Haare geschoren werden, sagt sie: ‚Ich kriege den Kopf sowieso ab, da sollen meine Haare nicht kaputtgehen.'“
Kathrin Rosendorff, „Hauptsache gegen Hitler“, Frankfurter Rundschau 10. Januar 2016
Die Rolle von NS-Verbrecher Kurt Wenzel
Der Kriminalobersekretär Kurt Wenzel (im Hörspiel: Kurt Wolf) leitete bis Kriegsende das Referat Kommunismus und Marxismus bei der Geheimen Staatspolizei Hildesheim. Er war laut Historiker Hans-Dieter Schmid („Hildesheim in der Zeit des Nationalsozialismus“) nicht nur für die Ermordung von rund 3000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern im russischen Stawropol verantwortlich, sondern auch an der Tötung von 1000 Juden in einem mobilen Gaswagen in Pjatigorsk beteiligt. Wenzel hatte seine Karriere im Staatsdienst einst als Kriminalobersekretär der Hildesheimer Polizei begonnen. Später wurde er Teil von Hitlers Machtapparat – und machte sich unzähliger Kriegsverbrechen schuldig. (aus: Christian Harborth: „Hitlers Polizei – dein Freund und Mörder“ , in Hildesheimer Allgemeine Zeitung 16.4.2016) Die angeklagten Mitglieder der Schlangenbande sollten nicht die einzigen sein, die unter seiner Führung leiden mussten, wie Zeitzeugenberichte offenlegen.
„Wenzel packte mich, stieß mich zur Tür. Ich bekam einen Fußtritt. Er schrie etwas. Ich fiel, raffte mich auf. Die Gittertür zum Gang wurde aufgerissen, ich lief darauf zu, hinter mir hörte ich die Hunde. Ich hatte zuvor bemerkt, dass der Hundezwinger leer war, die Hunde also frei umher liefen. Nun lief ich so schnell ich noch laufen konnte zu meiner Zelle. Der Wachtmeister stand bereit, stieß mich in die Zelle, warf die Tür zu und schloß ab. Ein Hund hatte im letzten Augenblick ein Hosenbein erwischt. Ich schlug der Länge nach hin und verlor die Besinnung.“
Gustav Voß, „Vernetztes Erinnern“
„Bei meinem Versuch, die Besuchserlaubnis [für meinen eingesperrten Mann Theo] zu bekommen, war ich nach Hildesheim gefahren. Hier wollte mich der Gestapo-Beamte Wenzel zu Spitzeldiensten gewinnen. Nachdem ich das von mir gewiesen hatte, sagte er: ‚Nach Ihrer Akte, die wir eingesehen haben, rate ich Ihnen nur: Sollten Sie noch einmal in unsere Hände fallen, nehmen Sie lieber gleich einen Strick und hängen sich auf!’”
Dora Gaßmann, „Hannoversche Frauen gegen den Faschismus 1933-1945“
Lebenslange Fahndung nach der Wahrheit
Willi Sievers ließ die Sache nicht mehr los. In den 80er Jahren händigte man ihm bei der Hildesheimer Justiz Fotokopien der Anklageschrift, von Einlieferungs- und Entlassungsdokumenten aus dem Gefängnis aus (siehe Dokumentationsmaterial).
Er bekam aber keine Urteilskopie. Eine erste Nachfrage von Radio Tonkuhle 2012 wurde mit der Auskunft „Wir sind keine Akten führende Behörde!“ beschieden. Nachfragen bei verschiedenen Archiven liefen ins Leere. Der Verbleib der Hildesheimer Akten – es wurde nachweislich kopiert – konnte bis heute nicht geklärt werden. Im Gesprächskreis konnte man die Ereignisse aber kontextualisieren und erklärbar machen. Die Einordnung in den reichsweiten Zusammenhang oppositioneller Jugendgruppen macht das Handeln des NS-Regimes plausibel. „Das Cliquen-und Bandenunwesen veranlaßte die Reichsjugendführung und die örtlichen Führungsstellen der HJ, in größeren Aktionen in Zusammenarbeit mit Sicherheitspolizei und Justiz gegen die Bandenbildung einzuschreiten.
Der Kriegsverlauf produzierte zunehmend Verunsicherung unter den Jugendlichen. Sievers führt den Übereifer des HJ-Streifendienstes in Alfeld auf ein einfaches Motiv der beiden Anführer zurück:“Die wollten nicht zur Wehrmacht eingezogen werden und sich wichtig machen!“
Im Februar 1943 hatte in Stalingrad die 6. Armee kapituliert. Der Krieg kam an seinen Wendepunkt. Am 9. Oktober 1943 erlebte Hannover seinen verheerendsten Bombenangriff. Willi Sievers wurde als HJ-Angehöriger zum Aufräumen zwangsverpflichtet. Es kam zur Aufnahme von Evakuierten aus Hannover in Alfeld. Darunter auch der Mitangeklagte und vermutete Rädelsführer Günter B. Dieser nun habe sich wichtig gemacht und die Geschichte von der „Schlangenbande“ aus Hannover mitgebracht. Keiner habe das für bare Münze gehalten, meint Willi Sievers.
Gespenster der Gestapo? – Kontext zum reichsweiten Zusammenhang oppositioneller Jugendkulturen
Für die Gestapo bot sich in Alfeld ein scheinbar willkommener Grund um die HJ-Arbeiterjugendlichen – allesamt Kinder aus sozialdemokratischen und kommunistischen Familien – zu disziplinieren. Reichsweit war es immer wieder zu Zusammenschlüssen von Jugendlichen gekommen, die nicht mit dem NS-Regime konform gehen wollten.
Im Herbst 1943 verhaftete – genau wie in Alfeld – die Gestapo mit Unterstützung der HJ („Streifendienst“) in Köln Brauweiler mehrere „Edelweißpiraten“ der Ehrenfelder Gruppe. Es kam zu einem Angriff auf das NSDAP-Kreishaus in Köln-Mülheim. Erst die Polizei konnte die Auseinandersetzungen beenden. Quer durchs Ruhrgebiet nahmen Aktionen der Edelweißpiraten-Gruppen zu und bereits vor der Landung der Alliierten am „D-Day“, dem 6. Juni 1944, sowie vor dem Staufenberg Attentat auf Hitler, am 20.7.1944, versuchte die Geheime Staatspolizei mit gezielten Aktionen Druck auf die Gruppen auszuüben und ihre Ausbreitung zu verhindern. Dies wäre eines der möglichen Motive für die Ereignisse in Alfeld.
Die Ereignisse in Köln Ehrenfeld am 10. November 1944 schließlich bilden einen traurigen Höhepunkt der jugendlichen Opposition gegen das NS-Regime. Ohne Gerichtsurteil wurden hier der frühere Jungvolkführer Hans Steinbrück sowie weitere 12 Mitglieder der Edelweißpiraten öffentlich gehenkt.
Zu dieser Zeit waren die meisten Alfelder Angeklagten bereits für den Endsieg im Einsatz.Zeitzeuge Willi Sievers, der unmittelbar nach seiner Entlassung seine Gesellenprüfung als Friseur ablegte und sofort zur Wehrmacht einberufen wurde, kann bis heute keinen politischen Grund für die Ereignisse im Januar 1944 finden: „Es hat doch aber nie eine Schlangenbande gegeben!“