Zeitzeugen

Willi Sievers (93)

Als erstes Kind von seiner Mutter Gertrud und dem Friseurmeister Wilhelm kam Willi Sievers, genannt „Putzer“, am 18. Juni 1926 am Marktplatz in Alfeld zur Welt. Sein Vater verhaftete man im April 1935 und bezichtigte ihn der Vorbereitung zum Hochverrat. Er wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in Hameln absaß. Anschließend wurde er noch über ein halbes Jahr in Sicherheitsverwahrung gehalten. Es ist nicht belegt, ob er in dieser Zeit im Lager Holzen (Außenstelle vom KZ Buchenwald bei Eschershausen) war.

Die Verwandtschaft rät der Mutter, den Jungen ins Jungvolk und die Hitlerjugend zu schicken, weil sie der Ansicht sind, das könne dem Vater nur helfen. Ab 1941 durfte Vater Sievers wieder als Friseur arbeiten. Sein Sohn Willi wurde in eine Friseurlehre nach Alfeld in den Salon Gebhard (im Hörspiel: Grote) vermittelt. Der Eisenbahnverkehr nach Northeim wird durch Luftangriffe häufig in Mitleidenschaft  gezogen. In den Abendstunden des 19. Januar 1944. (in der Anklageschrift wird vom 20.1.1944 geschrieben) kommt es zur Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei. Der Rest seiner Geschichte wird im Historienhörspiel „Die Schlangenbande“ erzählt.

Nach seiner Rückkehr vom Gerichtsverfahren am Landgericht Hildesheim erwartete Willi Sievers die Aufforderung zur Gesellenprüfung. Vier Wochen später lag die Einberufung zur Wehrmacht nach Halberstadt auf dem Tisch. Durch seinen Stubenkameraden, den Sohn des Gauleiters aus Magdeburg, kam er nach Dänemark und nicht an die Ostfront. Zum Jahreswechsel 1945 wurde er nach Wloclawek (damals Lesslau) . Von dort flüchtete er mit seiner Einheit vor den Russischen Truppen her bis in die Gegend von Dessau, wo er Mitte April 1945 von der US-Army gefangengenommen wurde. Der Zufall wollte es, dass der vernehmende Seargent ein ehemaliger Alfelder war, der Ende der 20er Jahre nach den USA ausgewandert war. Die Amerikaner transportierten ihn ins Kriegsgefangenenlager nach Rheinberg. Im berüchtigten Rheinwiesenlager traf er eine ganze Reihe Alfelder. Im Juli 1945 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen.

Aus der Nachkriegszeit berichtet Sievers von vielen politischen Oppotunisten. Einer von ihnen verweigerte ihm in einem Antragsverfahren eine Wiedergutmachung für die Haft. Es hätte beiden Jugendlichen die politische Überzeugung gefehlt. Es sei lediglich zu zwei Fällen gekommen, bei denen sie im Friseurgeschäft geweigert hätten, Kunden zu bedienen, die sich in der NS-Zeit ihnen gegenüber feindlich gezeigt hätten. Sein Vater habe den Satz geprägt: Dies ist eine kleine Stadt, da ist man aufeinander angewiesen. Sein Vater habe ihn auch in diesem Zusammenhang ermahnt, beim Prozeß gegen Dr. Vogel (im Hörspiel: Dr. Falk) in Göttingen bei der Wahrheit zu bleiben. Letzterer sei aus Alfeld genauso verschwunden wie Ortsgruppenführer Oskar Ihde.

Sievers derweil arbeitete zunächst wieder als Friseur, war in der Freizeit ein begeisterter Mundharmonika- und Laientheaterspieler. Sein ausgeprägtes Geschichtsinteresse ließ ihn zur lebenden Chronik Alfelds werden. Seit Herbst 2010 sitzt er mit im Kreis des Erzählcafes „Mit zehn ein Mann sein!“ – Kindheit und Jugend in der NS Zeit in Alfeld. Als Zeitzeuge diskutiert er mit den anderen Mitgliedern regelmäßig zu auch aktuellen zeitgeschichtlichen Themen im
Bürgerrundfunkprogramm von Radio Tonkuhle.

Kurt Mädel († 84)

Kurt Mädel wurde 1929 als Sohn eines Polizisten und einer Hausfrau geboren. Der Vater war als Sozialdemokrat aber bereits aus der Polizei zurückgetreten, um in Alfeld ein Fahrradgeschäft zu eröffnen. Er wurde knapp zehn Jahre später, zu Beginn des II. Weltkrieges, „unabkömmlich“ (als kriegswichtig) eingestuft, weil er die Räder der Arbeiter der nahen Munitionsfabrik in Godenau reparieren musste. Sein Sohn Kurt erlebte die als Skatabende getarnten heimlichen Zusammenkünfte der alten SPD-Anhänger mit und lernte zwei Sprachen: „Draußen sagte man Heil Hitler, drinnen Guten Tag!“
 

Auch Kurt trat der HJ bei und war ein glühender Anhänger des Regimes, wurde aber immer wieder von seinem Vater moralisch zurechtgestutzt: Den Triumph des U-Boot Kommandanten Prien, der die englische Flotte im Oktober 1939 in Scapa Flow empfindlich traf, durfte er nicht bejubeln. Der Vater macht ihm klar, dass durch diese Tat einige Tausend Väter, Söhne, Brüder und Onkel „jämmerlich ersoffen“ wären. Kurt hat diese Worte des Vaters nie vergessen. Sie fanden durch den Mund von Mutter Sievers auch in das Schlangenbanden-Hörspiel Einzug, nur das hier wegen zeitlicher Versetzung die „Royal Ark“ (gesunken 1941) gewählt wurde.

Kurt Mädel wurde begeisterter HJ-Flieger, und flog noch „14 Tage bevor der Amerikaner einrückte“ auf dem Segelflugplatz Ith in der Nähe Alfelds seine „B-Prüfung“. Er wird als 16-Jähriger nach Gandersheim ins Lazarett abkommandiert, wo er einen Verwundetenzug von der Ostfront mit ausladen muss. Hier erleidet er sein erstes Kriegstrauma, weil er „alle möglichen menschlichen Extremitäten aus dem OP zum Verbrennen wegtragen muss. Auch nach dem Angriff auf Hildesheim am 23.3.1945 wird er zum Aufräumen eingesetzt, und erfährt dort die grausigen Szenen des Luftkriegs (Zitat „Klein wie Puppen waren die nur noch!“)

Kurt Mädel nimmt am „Endkampf um Alfeld“ teil, unter Befehl des Volkssturmführers Pöthe soll er einen „defätistischen Kameraden“ erschießen, lässt ihn aber aus einem Abort entfliehen. In der SS-Uniform der Division Leon Degrelle (belgischer NS-Führer), die zum Jahreswechsel 1944/45 in der Gegend um Alfeld stationiert ist, schießt er beinahe seine fliehenden Alfelder Parteigrössen zusammen. 

Nach dem Krieg übernimmt Kurt Mädel das Fahrrad- und Kleinkraftradgeschäft seines Vaters. Als Angehöriger der „Seminarstrassenbande“ – die Kinder spielten in Trupps im Wohnumfeld und hatten dort ihre ersten Freundschaften – kannte er auch Willi Sievers.  In den Radiointerviews bildete er das Pendant zu Alfeld-Chronisten Willi Sievers: Oftmals half er beim Erinnern aus, aber er korrigierte ihn auch bei historischen Ungenauigkeiten.

Kurt Mädel starb als erster aus dem Kreis im Jahr 2013 und hinterließ eine schmerzliche Erinnerungslücke.